Urs Widmer (1938–2014) wuchs in Basel als Sohn eines Gymnasiallehrers, Übersetzers und Literaturkritikers auf. Nach dem Studium der Germanistik, Romanistik und Geschichte und einer Promotion zur deutschen Nachkriegsprosa arbeitete er als Verlagslektor beim Walter Verlag in Olten. 1966 wechselte er nach Frankfurt am Main zum Suhrkamp Verlag. Seine Tätigkeit als Lektor gab er bald wieder auf, um als freischaffender Schriftsteller zu leben. Nebenbei dozierte er an der Universität Neuere Deutsche Literatur, verfasste Literaturkritiken für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und war als Übersetzer tätig. 1984 kehrte Widmer in die Schweiz zurück und lebte und arbeitete in Zürich. Er war verheiratet und Vater einer Tochter. Neben Erzählungen (Alois 1968, Liebesnacht 1982, Der blaue Siphon 1992 u.a.) und Romanen (Im Kongo 1996, Der Geliebte der Mutter 2000, Das Buch des Vaters 2004 u.a.) verfasste Widmer auch zahlreiche Essays, Hörspiele und Theaterstücke (Die lange Nacht der Detektive 1973, Nepal 1976, Top Dogs 1996 u.a.). In seinem letzten Lebensjahr veröffentlichte der mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnete Schriftsteller die Autobiografie Reise an den Rand des Universums (2013). Widmers Werk zeichnet sich durch eine grosse Vielseitigkeit und einen Hang zum Parodistischen und Surrealen aus.
Verschiedene in ihrer Bedeutung bisher eher unterbewertete Spuren in Widmers Werk verweisen auf die biografische Verbindung des Autors zu Italien. Neben den klassischen Sehnsuchtsmotiven ist es in erster Linie die Geschichte rund um die Herkunft seiner Mutter aus dem Puschlav, mit der Widmer sein Werk in einen Italien-Kontext setzt. Die autofiktional bearbeitete Herkunftsgeschichte der Mutter aus der italienischsprachigen Region im Kanton Graubünden, welche erstmals in Das enge Land (1981) erwähnt wird, steht im Zentrum der über die Italien-Motivik miteinander verbundenen Texte Widmers. Anita Mascioni ist demnach verantwortlich für die biografische Verwurzelung und die Affinität des Schriftstellers im und zum Italienischen.
Widmers Autobiografie Reise
an den Rand des Universums (2013), die eine umfassende intertextuelle
Referenzialität zum gesamten Werk des Autors herstellt, erwähnt verschiedene Kindheitserinnerungen
an die Besuche bei der südschweizerischen Verwandtschaft, die italienische
Sprache oder an den am Bernina gelegenen Weiler La Rösa. Die autobiografische
Verbindung zu Italien taucht aber bereits in Der Geliebte der Mutter (2000) auf. Mit der stilisierenden Verfremdung
der Herkunft seiner Mutter, die hier statt aus Südbünden aus Italien stammt, schafft
der Autor in diesem Roman einen interkulturellen Migrationskontext zwischen der
Schweiz und ihrem südlichen Nachbarland. Clara Molinari, die Mutter des
Erzählers, trifft an der Beerdigung ihres Vaters mit ihrer italienischen
Verwandtschaft aus dem Piemont zusammen. Die Protagonistin des Romans definiert
sich primär über das andere Geschlecht – sei es über den Vater, den Geliebten,
den Onkel oder gar den Duce – und nimmt damit im Familiengefüge die für eine Frau
in einer von Männern dominierten Welt klassische Rolle ein. Widmer zeichnet hier
differenziert die patriarchale italienische Mentalitätsgeschichte nach. Er
zeigt, wie die im 19. Jahrhundert noch romantisierte Mentalität der Italianità
sich im 20. Jahrhundert mehr und mehr zum Schlachtruf einer machistischen, nationalistischen
und faschistischen Kultur entwickelte. Durch die geografische Verlagerung der
Verwandtschaft von der Südschweiz nach Italien zeichnet Widmer ein
politisch-soziales Porträt des Nachbarslandes.
Der in Der Geliebte der Mutter eine zentrale Rolle einnehmende patriarchale
Vater der Protagonistin wird in Reise an
den Rand des Universums (2013) nur am Rande erwähnt. Widmers Grossvater,
Giovanni Beniamino Mascioni, migrierte wahrscheinlich für sein Chemiestudium
nach Mailand und kehrte später zur Ciba nach Basel zurück. Die exakte
Verbindung zwischen dieser Aus- und Einwanderung des Grossvaters und der
Südschweizer Herkunft der Mutter bleibt indessen unklar. Womöglich führt sie aber
über die 1857 gegründete Firma Mascione, die im Puschlav Veltliner Wein
einkellerte und verkaufte.
Die Verflechtung der Texte und die in variierender Art und Weise immer wieder auftauchenden Motive sind als Eigenart von Widmers Schreiben zu verstehen. Italien zieht sich dabei als Motiv durch das gesamte Werk, wenn auch oft versteckt. Die frühe Erzählung Die schreckliche Verwirrung des Giuseppe Verdi aus dem Jahr 1977 verzichtet zwar komplett auf autobiografische Referenzen bezüglich Italien, setzt sich aber dafür spielerisch mit typischen Sehnsuchtsklischees auseinander.
Quellen
- Ulrich Weber, Muttermythen. Urs Widmers Italianità, in: Corinna Jäger-Trees und Hubert Thüring (Hg.), Blick nach Süden. Literarische Italienbilder aus der deutschsprachigen Schweiz, Schweizer Texte, Neue Folge, Band 55, Zürich: Chronos, 2019, S. 339–352.
- Eintrag zu Urs Widmer auf Bibliomedia, http://www.svbbpt.ch/de/autoren/Widmer_Urs/746.html (4.7.2019).
- Eintrag zu Urs Widmer auf Viceversa Literatur, https://www.viceversaliteratur.ch/author/3112 (4.7.2019).
- Archiv Urs Widmer, Schweizerisches Literaturarchiv (SLA), Bern.