Kuno Raeber (1922–1992) wuchs in einem streng katholischen Haushalt in Luzern auf. Nach dem Gymnasium war er für kurze Zeit Novize des Jesuitenordens, den er aber nach zwei Monaten wieder verliess, um sich dem Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie zu widmen. Für sein späteres literarisches Schaffen waren die Kirche und die Religion dennoch prägend. Nach seiner Promotion über die Geschichtsbibel von Sebastian Frank hatte Raeber unter anderem die Leitung der Schweizer Schule in Rom inne, arbeitete als wissenschaftlicher Assistent an verschiedenen akademischen Institutionen und gründete eine Familie. 1958 bekannte er sich zu seiner Homosexualität und lebte fortan als freier Schriftsteller in München. Er verbrachte ausserdem längere Zeit in den USA. Sein Debüt gab er 1950 mit dem Lyrikband Gesicht im Mittag, der Durchbruch gelang ihm einige Jahre später mit Die verwandelten Schiffe (1957). Es folgten Jahre des Experimentierens mit verschiedenen literarischen Formen, neben Gedichten verfasste Raeber auch Erzählungen, Theaterstücke und Romane: Die Lügner sind ehrlich (1960), Alexius unter der Treppe (1973), Das Ei (1981), Sacco di Roma (1989). In seinem Werk verbinden sich Mythologie und Religion, Historisches und Fiktion sowie antike und christliche Traditionen. Raeber bewegte sich stets am Rande des Literaturbetriebs – gerade seine Prosa war für ein breiteres Lesepublikum nur schwer zugänglich. Er verstarb 1992 in Basel.
Während einer Studienreise
besuchte Raeber 1947 zum ersten Mal Rom – jene Stadt, die in seinem Leben aufgrund
der Tätigkeit seines Grossvaters in der Vatikanischen Druckerei bereits seit
frühster Kindheit präsent gewesen war. Dieser erste Italienbesuch gestaltete
sich für den Autor als eine Art Erweckungsmoment: Italien – und besonders Rom –
sollten von nun an sein Leben und sein literarisches Schaffen grundlegend
prägen. Nach seiner Tätigkeit an der Schweizer Schule in Rom zwischen 1951 und
1952 kehrte Raeber immer wieder für kürzere oder längere Zeit in die
italienische Hauptstadt zurück, wo er in einer Wohnung am Vicolo del Farinone lebte.
Sein Stammkaffee und liebster Arbeitsort war das Caffè della Cancelleria in der
Nähe des Campo de’ Fiori. Dieses Kaffee wurde auch zum Schauplatz der Rahmenhandlung
im Roman Das Ei (1981).
Die italienische Hauptstadt war aber nicht nur beliebtes Szenarium für Raebers Prosatexte
und Gedichte, sondern fungierte auch als Inspiration für sein literarisches Schaffen
überhaupt: Die für die ewige Stadt typischen übereinanderliegenden historischen
Schichten bei Bauten, Denkmälern, Riten, Heiligen, Texten, Bildern und antiken sowie
christlichen Legenden beschreiben das Wesen von Raebers poetologischem Programm.
Dem Phänomen der Schichtung kommt darin eine grundlegende Bedeutung zu: Die Ewige
Stadt, in der das Erbe der ganzen Menschheitsgeschichte gegenwärtig ist, steht in
Raebers Texten symbolisch für das kulturelle Gedächtnis Europas. Beispielhaft
für dieses vielschichtige Spiel mit den diversen Aspekten der Stadt Rom sind
das 1960 publizierte Gedicht Die
Engelsburg – Kaiser Hadrian spricht
und der Roman Sacco di Roma (1989),
ein Weltuntergangsspektakel, in dem die Trümmer der europäischen Geschichte in
einen sich zum Abgrund drehenden Sog gerissen werden. Kern beider Texte bildet
das Mausoleum des antiken Kaisers Hadrian, das mit seiner Palimpsest-Struktur
die für Raebers Texte typische spiralförmige Bewegung durch die Jahrhunderte
und durch die Sprache selbst symbolisiert.
Neben Rom ist aber auch Venedig wichtig für Raebers Werk: Die Lagunenstadt taucht in mehreren Werken des Autors auf, unter anderem in Miracula Sti. Marci, einem mehrteiligen Zyklus über die Wunder des venezianischen Staats- und Stadtpatrons. Ausserdem wurde Raebers Italienbild geformt von einigen historisch oder literarisch bedeutungsvollen Orten wie den Gärten des Vatikans oder Kaiser Neros Domus aurea.
Quellen
- Christiane Wyrwa und Matthias Klein, «Ich betrat Rom, und der Schleier zerriss.» Italien im literarischen Werk von Kuno Raeber, in: Corinna Jäger-Trees und Hubert Thüring (Hg.), Blick nach Süden. Literarische Italienbilder aus der deutschsprachigen Schweiz, Schweizer Texte, Neue Folge, Band 55, Zürich: Chronos, 2019, S. 227–239.
- Christiane Wyrwa, ‹Sacco di Roma›. Mutmaßungen über ein enormes Gedicht, in: Richard A. Klein (Hg.), Der Dichter Kuno Raeber, München: Scaneg, 1992, S. 104–119.
- Christiane Wyrwa, Kuno Raeber – sein Werk und sein literarischer Nachlass, in: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs, 12 (1999), S. 70–74.
- Eintrag zu Kuno Raeber auf Bibliomedia, https://www.bibliomedia.ch/de/fuer-alle/schweizer-autoren-und-autorinnen/autor-im-detail/kuno-raeber/ (4.7.2019).
- Eintrag zu Kuno Raeber auf Viceversa Literatur, https://www.viceversaliteratur.ch/author/14690 (4.7.2019).
- Eintrag zu Kuno Raeber im Historischen Lexikon der Schweiz, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/028261/2011-12-16/ (4.7.2019).
- Heinrich Detering (Hg.), Kuno Raeber, Text + Kritik, Heft 209, München: edition text + kritik, 2016.
- Beatrice von Matt, Mythisches Manhatten, in: Neue Zürcher Zeitung (24.5.2008), https://www.nzz.ch/mythisches_manhattan-1.741303 (29.1.2019).
- Nachlass Kuno Raeber, Schweizerisches Literaturarchiv (SLA), Bern.